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Müllheim (Baden), Baden-Württemberg, Germany
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Freitag, 28. März 2014

Vergils Prophetie

P. Vergilii Maronis Eclogam IV

silvas consule Pollio dignas notis explicui

Manfred Erren professor Friburgensis emeritus
anno Domini MMXIII.

Sicelides Musae1, paulo maiora2 canamus!
non omnis arbusta iuvant humilesque myricae;
si canimus silvas3, silvae sint consule dignae.

Ultima Cumaei venit iam carminis aetas4:
5 magnus ab integro saeclorum nascitur5 ordo6,
iam redit et virgo7, redeunt Saturnia regna8,
iam nova progenies9 caelo demittitur alto.

tu modo10 nascenti puero11, quo12 ferrea primum
desinet ac toto surget gens aurea mundo,
10 casta fove Lucina: tuus iam regnat Apollo13.

teque adeo decus hoc aevi, te consule14, inibit,
Pollio, et incipient magni procedere menses15;
te duce, si qua manent sceleris vestigia nostri16,
inrita17 perpetua solvent formidine terras.
15 ille18 deum vitam accipiet19 divisque videbit20
permixtos heroas et ipse videbitur illis,
pacatumque reget patriis virtutibus21 orbem.

At tibi22 prima, puer, nullo munuscula cultu
errantis hederas passim cum baccare tellus
20 mixtaque ridenti colocasia fundet acantho23.
ipsae lacte domum referent distenta capellae24
ubera, nec magnos metuent armenta leones;
ipsa tibi blandos fundent cunabula flores,
occidet et serpens, et fallax herba veneni
25 occidet; Assyrium vulgo nascetur amomum25.

at simul heroum laudes et facta parentis
iam legere et quae sit poteris26 cognoscere virtus,
molli paulatim flavescet campus arista
incultisque rubens pendebit sentibus uva
30 et durae quercus sudabunt roscida mella.
pauca tamen suberunt priscae vestigia fraudis27,
quae temptare Thetim ratibus, quae cingere muris
oppida, quae iubeant telluri infindere sulcos.
alter28 erit tum Tiphys et altera quae vehat Argo
35 delectos Heroas; erunt etiam altera bella
atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles,

hinc29, ubi iam firmata30 virum te fecerit aetas,
cedet31 et ipse mari vector, nec nautica pinus
mutabit merces; omnis feret omnia tellus32.
40 non rastros patietur33 humus, non vinea falcem;
robustus quoque iam tauris iuga solvet arator34.
nec varios discet mentiri35 lana colores,
ipse sed in pratis aries36 iam suave rubenti
murice, iam croceo mutabit vellera luto;
45 sponte37 sua sandyx pascentis vestiet agnos
"Talia saecla" suis dixerunt38 "currite" fusis
concordes stabili fatorum numine Parcae.

adgredere o magnos (aderit iam tempus39) honores40,
cara deum suboles, magnum Iovis incrementum41
50 aspice convexo nutantem pondere mundum42
terrasque43 tractusque maris caelumque profundum;
aspice, venturo laetentur ut omnia saeclo44!
o mihi tum45 longae46 maneat pars ultima vitae,
spiritus et quantum sat erit tua dicere facta

55 non me carminibus47 vincet nec Thracius Orpheus
nec Linus, huic mater quamvis atque huic pater adsit,
Orphei Calliopea, Lino formosus Apollo.
Pan etiam48, Arcadia mecum si iudice certet,
Pan etiam Arcadia dicat se iudice victum.

60 Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem
(matri longa decem tulerunt fastidia menses)
incipe, parve puer: qui non risere parenti,
nec deus hunc mensa, dea nec dignata cubili est49.

Notae

(1) Sicelides Musae...canamus (V.1): Der Dichter tritt als Bukoliker, d.h. für die Phan­tasie vor idyllischer Landschaftskulisse in der Maske eines Viehhirten auf und ruft für sein "Lied" die speziellen "sizilischen" Musen (d.h. die Musen Theokrits) an für einen wichtige­ren Vortrag als den letzten (paulo maiora), der wie gewöhnlich arbusta (Obstplantagen) und niedrige myricae (Blumenbeete) zum Gegenstand hatte (V.2), die aber nicht für jedes Publikum gut genug sind. Mit diesem "Zeug" (silvas) kann man ja nicht jedem imponieren. (Ein kleines Gehölz gehört zu jeder Villa, weil sie der Gerätewerkstatt das nötige Holz­material liefert, aus dem man etwas für Stall und Schuppen zurechtmacht. Gehölze gehö­ren also zum Bühnenbild des Gedichts, dem sog. "Idyll", "Bildchen". Solche Bildchen sind die Inszenierung der poetischen Pseudo-Viehhirten-Gesellschaft, die einander mit pseudo­proletarischen Gelegenheitsgedichten unterhalten und wie mit Ständchen beehren. Diese silvae sind aber nicht der eigentliche Inhalt des jeweiligen Gesangs, sondern das für den­selben phantasierte Bühnenbild mit den dazu verfügbaren Kulissen und Requisiten; das Ganze das Spielfeld der sich aufspielenden Dichtergesellschaft. Man spricht in der Fach-literatur auch von "Bukolischer Maskerade". Ich nenne die Requisiten des einzelnen Idylls, wegen der darin verteilten Ehrenzeichen, "bukolische Heraldik". Vers 3 heißt, in die zentraleuropäische Hirtenlyrik der bairischen Alpen übersetzt, etwa: Wemma hoit sizilische Hüatabuam san, un Hüatabuamzeig mian jodln, miama diesmoi, wo an Freindl Konsul is woan, konsularisches Zeig zammodln. (Wenn wir halt sizilische Hütebuben sind und Hütebubenzeug jodeln müssen, müssen wir diesmal, wo ein Freund Konsul geworden ist, konsularisches Zeug zusammenmodellieren.) Pollio, der in V.12 als Empfänger des Ständchens angeredet wird, ist nämlich im Jahr der IV.Ekloge, 41 a.C.n., für das Jahr 40 a.C.n. zum Konsul gewählt worden.
(2) paulo maiora (V.1): Der Gegenstand dieses Idylls soll ein wenig bedeutender sein als in dem Idyll von Menalcas, Damoetas und Palaemon (E.3,84-89), in dem Pollio als Dichterkollege gelobt wurde: Pollio amat nostram Musam; Pollio et ipse facit nova car­mina. Pollios Sieg in der Konsulwahl von 40 v.Chr. ist schon etwas Größeres.
(3) Zur Übersetzung von V.3 ins Bairische war mir Langenscheidts Lilliput von Karl Georg Kleinmayer, München 1999 eine willkommene Hilfe.
(4) Aber das eigentlich Wichtige dieses Idylls ist das neue Orakel der Sibylle von Cu­mae: ultima Cumaei venit iam carminis aetas (V.4): Das Lied der Sibylle von Cumae ist zu seinem letzten "Lebensalter" gekommen! Wenn das Lied der Sibylle von Cumae im Jahr 41 Stadtgespräch war, hatte man es in einem der Sibyllinischen Bücher gefunden, die im Jahr 44 anläßlich der Ermordung Caesars und der erschreckenden Erscheinung eines Kometen vom Senat konsultiert worden sind. Wie wir hier erfahren, enthielt es die Vorher­sage, daß bald ein größerer Epochenzyklus an seinem Ende angekommen sei und von vorn anfange. Da aber ein anderer großer Epochenzyklus als der der Weltgeschichte Hesiods nicht allgemein bekannt war – wer wird schon an das Große Jahr der Planeten denken oder an Platons Politikos 271ff. –, konnten weder die pseudoproletarischen Hirten Siziliens noch die ptolemäisch-alexandrinisch gebildeten Römer der Zeit nach 44 v.Chr. den sibyllinichen Spruch anders deuten als so, daß die Bürgerkriege bald überstanden sein werden und eine neue saturnische, d.h. in Frieden von der Fruchtbarkeit der Pflanzen- und der Tierwelt lebende, von väterlichen Göttern liebevoll regierte Zeit anbrechen wird. Es kam ja damals tatsächlich eine umfassende Verwandlung der politischen Verhältnisse, und zwar die von den Triumviraten und ihren Bürgerkriegen herbeigeführte Verwandlung der republikanisch verfaßten Stadtstaaten in theokratische Despotien, die von den Bürgern Roms und der italischen Gebiete zunächst als Rettung und Befreiung erlebt wurde. Eine paradiesähnliche Goldene Zeit im Hesiodischen Stil wurde es allerdings nicht, und auch sonst ging das Orakel auf keine erwartete Weise in Erfüllung. Auch der Vergleich der Wiege des Neugeborenen in V.23 mit der Krippe im Stall von Bethlehem und der munuscula von V.18 mit den Geschenken der Hirten und der heili­gen Drei Könige läßt sich über V.25 hinaus nicht plausibel auf ganze Ekloge anwenden. Asiinius Pollio paßt schon gar nicht ins Lukas-Evangelium.
(5) magnus saeclorum ordo (V.5): Es handelt sich für Vergil auch nicht um abge­zählte Jahrhunderte, mit welchen im Altertum niemand eine Ära ausmaß, sondern um die Reihe der archäologischen Metallzeiten, in die schon Hesiod in seinem Lehrgedicht von den "Werken und Tagen" die Menschheitsgeschichte eingeteilt hat, wie es die Archäologen der europäischen Vorgeschichte mit den Namen "Bronzezeit" und "Eisenzeit" heute noch tun. Daneben kannte Hesiod auch vom babylonischen "Sukzessionsmythos" die Zeit­teilung nach Regierungszeiten der ältesten Götter, deren Reihe mit Kronos = Saturn anfängt.
(6) ab integro nascitur (V.5): Die ganze Reihe wird von vorn an "neu geboren", kann also nur ein lebendes Individuum, ein Mensch sein. Dieser erscheint als Allegorie für ein Zeitalter, und dessen verschiedene Epochen erscheinen als Wachstums-, Entwicklungs-, Reife- und Erlebensstufen eines allegorischen Knaben, und dessen Leben be­stimmt und gliedert die Gestalt des ganzen Gedichts. Wie im Kinderlied die Vier Jahreszei­ten Frühling, Sommer, Herbst und Winter vier Kinder der einen Sonne genannt werden, so erscheinen in Vergils Vierter Ekloge die fünf Menschengeschlechter Goldene, Silberne, Eherne, Heroi­sche, Eiserne Menschen zusammen als die Runde des Weltalter-Reigens, der nach dem Spruch der Sibylle im Jahr 40, dem Konsulatsjahr des Asinius Pollio, vier Jahre nach dem Tod Caesars und zwei Jahre nach dem Tod der Caesarmörder bei Philip­pi, die zunächst noch laufende Eiserne Zeit abschließen und eine neue mit einer Goldenen wieder von vorn anfangen werde. Daß dies so kommen werde, muß man einem Buch der mutmaßli­chen Sibylle von Cumae im Jahr 41 a.C.n. mehr oder weniger ernsthaft entnom­men haben. Aber Vergil führt die Allegorie nicht einheitlich bis zum Schluß des Gedichts durch. Der Knabe steht in der Vierten Ekloge zunächst für den ganzen großen Saeculorum Ordo, später jedoch für wechselnde Zeitalter, Goldene und Silberne und Heroische, und zuletzt nur noch für ein einziges sterbliches Individuum.
(7) virgo = Astraea (V.6): Die "Jungfrau" am Sternhimmel stammt eilgentlich von Zeus, der sie den Menschen erst nach seinem Sieg über die Titanen gegeben hat. Sie ist die Rechtspflege unter den Menschen, wenn sie sie nicht ehren, geht es ihnen schlecht. Das hat erst Hesiod Op.109-273 beschrieben (er nennt sie V.256 Δικη, Recht). Zum Sternbild wurde sie aber bei Arat V.97 (Παρθενος, Jungfrau, 105 Tochter des Αστραιος, Sternklar) und Ovid Met.1,89-112 (149f. Virgo Astraea), weil sie in der Eisernen Zeit die Menschen endgültig verließ und an den Himmel stieg. Unter Saturn kamen die die Menschen gut milt ihr aus, sie waren ja auch aus Gold und absolut sorglos, litten weder unter Krankheiten noch brauchten sie Besitz. Nachdem aber die späteren Menschen, zuletzt die Eisernen, so böse geworden waren, stieg sie auf in den Sternhimmel, wo sie zum Zeichen des Monats Sextilis, später des Monats Augustus wurde. So wie unter Saturn wird es aber, orakelt Vergil, im neuen Kreislauf unter Pollios Konsulat wieder werden. Die Sibylle von Cumae hat das gesagt, also kann dann auch die Jungfrau wieder zurückkehren. Ihre Rückkehr vom Sternhimmel auf die Erde zu den neuen Goldenen n bedeutet, modern gesprochen, Wieder­aufbau eines naiven Rechtsstaats, einer ohne positive Gesetze spontan wohlgeordneten Menschengesellschaft. Das Sternbild ist freilich am Himmel geblieben.
(8) saturnia regna (V.6): Die Regierungszeit des Titanen Kronos = Saturn im Olymp darf nicht mit Saturns Exilregierung in Latium verwechselt werden. Die war viel später und regierte nur das kleine Latium. (Vgl. Aen.8,314-336.)
(9) nova progenies caelo demittitur (V.7): Dieses neue Goldene Menschenge­schlecht wird wie das erste für seine Zeitenrunde nicht geboren, sondern wie das der ers­ten Runde von den Olympischen Göttern erschaffen und vom Himmel herab auf die Erde geschickt.
(10) tu modo...casta fove Lucina (V.8): Die keusche Lucina, d. i. Diana in ihrer Eigenschaft als Hebamme, soll den Jungen hegen und pflegen. Eine amtlich dokumentierte Mutter hat er nicht, einen Vater auch nicht, er ist eine von Apoll inspirierte Allegorie, eine Ballettfigur. Sie wird "geboren", d.h. erscheint dann wenn und dort wo der Reigen sich in die neue Runde bewegt, und die Weltgeschichte von einer Zeit in die andere tritt.
(11) ferrea primum desinet...gens (V.8): Die Geburt des Knaben ist der Punkt, wo das Menschengeschlecht aufhört, aus Eisen zu sein und anfängt, aus Gold zu sein. Wie die Götter das choreographisch zum Ausdruck bringen, bleibt der Erfindungsgabe des mit der Inszenierung betrauten Tanzmeisters überlassen. Apoll wird ihn inspirieren.
(12) surget gens aurea (V.9): Ein Goldenes Geschlecht wird heraufwachsen; toto mundo 9: Auf der ganzen Welt. Überall gleichzeitig. Apoll regiert "ab integro" auf der gan­zen Erde, sowohl über die eisernen Menschen, die noch da sind, als auch über die golde­nen, die bei der Geburt des Knaben, beim ersten Schritt in der neuen Runde, auftreten werden.
(13) tuus iam regnat Apollo (V.10): Apollo ist Bruder der Diana und regiert bereits. Das kann aber keine neue Weltregierung sein, die eine Saturnische oder Joviale ablöst - eine solche hat im hesiodisch-aratisch-ovidischen Weltalterreigen keinen Platz -; Apoll wirkt auf seine eigene Art mit und bestimmt in der Regie des Reigens allenfalls ein Interregnum, das den Übergang aus der ersten in die zweite Runde dirigiert. Man darf ihn als Gestalter des neuen Magnus Ordo ansehen.
(14) decus hoc aevi (V.11): = hoc aevo decoro, mit Beziehungsumkehr, so auch te consule inibit für tu consulatum inibis: In diesem schönen Zeitalter wirst du, Pollio, dein Konsulat antreten". Im Jahr 40. (S. zu Asinius Pollio 1, maiora.) Vergil und sein Bukoliker­freund Pollio (vgl. E.3,84-89) dürften das cumäisch-sibyllinische Orakel als eine Ange­legenheit des Orakel- und Dichtergottes Apollo angesehen haben, und diese als eine bu­kolische "silva", so wie die Herrschaft des iuvenis in E.1,42-45, die unglückliche Verliebt­heit des Corydon in E.2,1, die stoische Weltverwaltung Jupiters in E.3,60, der Elegiker Gallus in 10,2ff u.a. "silvae" waren. Deshalb gehe ich davon aus, daß es die Assonanz der beiden Namen "Pollio" und "Apollo" gewesen ist, die Vergil die Allegorie der Verse 11-63 inspiriert hat. Eines echten sterblichen Sohnes des C. Asinius Cn. f. Pollio bedurfte es nicht.
(15) magni menses (V.12): In dem sibyllinischen magnus ordo, der unter Pollios Konsu­lat neu beginnt, zählt man die Monatstage nicht wie in den Kalenderjahren des Pontifex Ma­ximus; alles dauert viel länger.
(16) sceleris vestigia nostri (V.13): Vestigia steht euphemistisch für damna, nostri für die noch andauernde Eiserne Zeit. Als Spuren ihres Verbrechens könnte man neben den Menschenopfern und Sachschäden der Kriege auch schon in Pollios Konsulatsjahr etwa die Vermögensbewegungen der Proskriptionen der Triumvirn ansehen. Vergil könnte dabei auch den Tod Ciceros im Sinn gehabt haben. Pollio soll anfangs Parteigänger des M. An­tonius gewesen sein. Darf man aber den V.13 der IV. Ekloge so konkret verstehen? Kann te duce inrita meinen, daß Pollio durch seine konsularische Gesetzgebung diese und andere Sachen "wiedergutmachen" würde? Realistisicher wäre die Annahme, daß solche Partei­angelegenheiten sicher nicht annulliert und entschädigt, möglicherweise aber fair ver­schwiegen und nicht mehr weiter verfolgt werden würden. Mehr "Irritation" der "Unrechtsspuren" dürfte auch unter dem Alt-Antonianer Asinius Pollio kaum zu hoffen gewesen sein.
(17) perpetua solvent formidine terras (V.14): Das kann betreffs der konkreten politischen Verhältnisse höchstens gemeint haben, daß es in absehbarer Zukunft keine Proskriptionen mehr geben würde. Aber solche politischen Einzelheiten sind im Silva-Begriff der Bukolik immer den Vorstellungen des angesprochenen Publikums überlassen.
(18) ille (V.15): Der "neugeborene Saeclorum Ordo" von V.5 besteht grundsätzlich in nichts anderem als darin, daß der kommende Weltalterreigen wieder, wie Hesiod das ge­zeigt hat, verschiedene Menschengeschlechter mit verschiedenen Sitten und Schicksalen und Schmuck- und Waffenindustrien an die Reihe kommen lassen wird.
(19) deum vitam accipiet (V.15): Das Goldene Zeitalter, das zuerst an die Reihe kommt, empfängt Götterleben von den Göttern (vgl. Hesiod Op.112). Es zeichnet sich aus durch festlichen Verlauf, stabile Gesundheit, langes Leben und schmerzloses Entschlafen.
(20) divis videbit permixtos heroas (V.15): In den Festgesellschaften wird man mythi­sche Helden mit unsterblichen Göttern versammelt sehen. Nach Hes. op. 115 kommen als gemeinsamer Zeitvertreib nur Festmähler in Frage. Et ipse videbitur illis: ...und wird selbst von ihnen gesehen und anerkannt werden.
(21) pacatumque reget patriis virtutibus orbem (V.15): Der Reigen der Weltalter, der unter Apolls Regie, Lucinas Segen und Pollios Konsulat wieder von vorn begonnen hat, wird die verschiedenen Menschengeschlechter friedlich vereint nach alter Vätersitte regie­ren. Die Väter werden dann wohl nicht ausschließlich Menschen der Eisernen Zeit des überstande­nen letzten Zyklus gewesen sein, aber doch mit solchen vereint. Wer könnte sonst wem gratulieren?
(22) at tibi, puer (V. 18): Bei At macht der puer nascens den ersten Schritt in der neuen Run­de des Reigens. Wenn puer der Reigen des Saeclorum Ordo ist, ist puer nascens V.8 der­selbe Reigen in dem Augenblick, da er zum ersten Schritt der neuen Runde den Fuß hebt. Zu diesem Schritt ruft der Dichter Lucina die Aufforderung zum Segen zu und verge­wissert sie des gegewärtigen Beistands ihres Bruders Apoll; er verspricht dem Konsul Pol­lio die glücklichen Ereignisse, die jetzt unter Apolls Regierung eintreten werden. Das erste ist die Gratulationscour, die ihm jetzt Geburtsgeschenke entgegenbringt.
(23) hederas, cum baccare, colocasia, acanthus, flores (V.18): hederae sind Epheu­ranken, baccar ist keltischer Baldrian, colocasium indische Wasserrose, acanthus ägypti­scher Schotendorn (ein stilisierter Umriß der Blüte erscheint als beliebtes ornamentales Reliefmotiv an tausend Stellen), myrica Tamariske. Diese Blumen werden natürlich nicht zum Fest aus fernen Ländern nach Rom oder Sizilien geholt, sondern schmücken das Festgedicht verbal, egal wo man es hört oder liest, mit bukolischer Heraldik. 18f. Nullo cul­tu tellus fundet: Die Erde bringt die floristischen Prunkstücke spontan und in Fülle hervor. Beschaffung durch menschliche Arbeit ist nicht nötig; der Ordo Saeclorum bringt durch sei­nen Schritt ins Goldene Zeitalter alles selbst hervor, ist alles selbst.
(24) ipsa cunabula (V.23): Man braucht diesen Vers nicht vor V. 21 ipsae capellae zu versetzen, denn es gibt für Allegorien keine hölzernen oder geflochtenen cunabula; wozu sollten sie auch dienen, wenn sie gleich aus sich heraus ausgießen, was in ihnen drin ist? Im Ordo Saeclorum sind die zärtlichen Blumen selber die Wiege des Goldenen Menschenge­schlechts, das ein Leben lebt wie es die Götter haben, und sie bleiben was sie sind dort wo sie sind und behalten, was sie haben. Die erste Epoche im heraldischen Bild des Ordo Saeclorum (Epoche 2A 18-25) ist die "Wiege" des neugeborenen Knaben.
(25) amomum (V.25): αμωμον "untadelig", hier heraldische Qualitätsbezeichnung. S. zu acanthus usw. 18-20.
(26) simul iam legere poteris (V.27): Wenn du dann, herangewachsener Knabe Sae­clorum Ordo, schon lesen kannst und von den Leistungen deiner Ahnen erfahren wirst. Die entsprechende Epoche 2B des neuen Weltalter-Reigens muß dann wohl Hesiods Silber­nes Geschlecht sein. Für dieses sind die menschlichen Lebensbedingungen immer noch viel besser als in der Ehernen oder der Heroischen Zeit, aber eben nicht mehr ganz so gut wie die der Goldenen. molli paulatim flavescet campus arista 28: Man braucht schon ein ei­gens bestelltes Feld, denn wenn es gelb werden soll, müssen die Ähren vom wilden Gras getrennt für sich in Furchen angesät sein. Sie werden nur langsam reif, man muß bis hoch ins Frühjahr von der letztjährigen Ernte leben, also im letzten Sommer geerntet und ge­speichert haben. incultis sentibus uva V.29: Die Trauben wachsen in wildem Gestrüpp, also an vereinzelten Reben, müssen also zur Lese zusammengesucht werden, das bringt nicht viel und nichts sonnengereift Süßes. Quercus sudabunt mella V.30: Ob quercus met­onymisch für die darin wohnenden Bienen steht oder für die Baumblätter und Baumrinde, mit und in denen die Bienen gebaut haben, auf jeden Fall bleibt die Honigernte in dem be­schriebenen zweiten Kulturzeitalter eine schwierige, nicht ungefährliche Arbeit. Mit dem Unterschied von Gold und Silber hat das aber nichts zu tun, auch wenig mit bukolischer Heraldik. Es ist vielmehr die Entwicklung der philosophischen Kulturentstehungslehre, die von der Betrachtung der Metallurgie bei Hesiod bei Vergil zur Betrachtung der Landwirt­schaft fortgeschritten ist, die von dem euhemeristischen Saturn in dessen italischem Exil bedeutende Belehrung und Wegweisung erfahren hat, wie Vergil im VIII. Buch der Aeneis ausführen wird. Schon die Vierte Ekloge setzt bei Vergil diese Entwick­lung voraus. Diese Epoche 2B des neuen Saeculorum Ordo ohne Weiteres nach heraldi­schen Indizien der Goldenen Zeit und einem Geburtsdatum der Triumviratszeit zuzu­ordnen, wie es in philologischen Kommentaren seit spätestens Augustinus bis in unsere Tage geschieht, lenkt vom Text ab. Der herangewachsene Knabe Novus Saeculorum Ordo hat also in der Epoche 2B V. 26-30 seine Landwirtschaft auf eine neue, wesentlich verbesserte, aber noch nicht ren­table Entwicklungsstufe gehoben.
(27) vestigia fraudis (V.31): Vgl. V.13 über Pollios Konsulatsjahr. Auch diesmal stam­men die Spuren noch von der Eisernen Zeit des vorigen Kreislaufs. Damals haben Lug und Trug die Menschheit genötigt, das Meer (repräsentiert durch die Naiade Thetis) zu provozieren und die Städte mit den Mauern und die Felder mit den Furchen zu versehen, die man auch in der bevorstehenden Ehernen und der Heroenzeit des neuen Kreislaufs als Spuren der Zeit des vorigen noch bestaunen wird. Man wird dann auch die Parzen, die bei der Hoch­zeit von Peleus und Thetis gesungen haben (Catul. 64,303-383), wieder singen hören, 46f. Der Dichter deutet aber im neuen Kreislauf eine (dritte) Eherne [Epoche 2C 31-33], und (vierte) Heroische Zeit [Epoche 2D 34-36], die mit einer neuen (fünften) Eisernen [Epoche 2E 37-47] den Kreislauf wieder zu seinem Ende führen müssen, nur mit jeweils wenigen Versen an, denn er will seine Glückwunschrede gut ausgehen lassen. Deshalb hat er das hesiodische Gliederungsprinzip seiner Glückwunschrede schon verlassen zugunsten des moderneren euhemeristischen, und verläßt nun alsbald auch dieses zugunsten eines kallimacheischen, in dem die Geschichte so gut und beseligend ausgeht, wie es sich für die Zukunft eines neugeborenen Knaben gehört, auch wenn er nur eine Allegorie für einen Weltalterzyklus ist.
(28) alter Tiphys (V.34), altera Argo, altera bella (V.35), iterum magnus Achilles (V.36): Das sind die Krieger und Waffen der neuen Ehernen Zeit. Tiphys war der Steuer­mann der Argo, die neue Weltalter-Runde hat in ihm ihren Seemann, in der neuen Argo ihr Schiff, und mit diesen neuen Geräten und Erfindern wird es dann auch wieder neue Hero­en einer neuen Heroischen Zeit 2D geben. Die Menschheit lernt dazu und entwickelt sich, wie unter Saturn, so jetzt unter Apoll. Außer dem "zweiten Troianischen" wird es sicher in der zweiten Weltalterrunde auch noch andere Kriege geben. Man sollte nur die neuen Halbgötter nicht zu prompt hinter den alten herjagen lassen; vielleicht entsprächen Alarich und Karl Martell den Zeitvorstellungen der mutmaßlichen Sibylle von Cumae besser.
(29) hinc, ubi iam (V.37): Nach der bevorstehenden Heroenzeit 2D müßte, wenn wir noch in Hesiods Zyklus wären, als fünfte wieder eine verdorbene Zeit folgen. Es folgt aber im Gegenteil eine Rückkehr zu Glück und Frieden, diesmal nicht zwischen Göttern und Menschen, sondern zwischen Land und Wasser, Pflanzen und Tieren, und niemand leidet mehr unter schwerer Arbeit. Die Schlußepoche 2E 37-47 des neuen Knabenzyklus ist kein verfluchtes Eisernes, sondern ein neu gesegnetes, saturnisch Goldenes Zeitalter.
(30) ubi iam firmata virum te fecerit aetas (V.51): Beziehungsumkehr = ubi tu iam fir­ma aetate vir factus eris. Auf der fünften Reifestufe ist die Allegorie des Pollio-Jahrgangs aus einem Knaben zum erwachsenen Mann geworden und der neue Reigen der Jahrhun­derte an seinem Zielpunkt, also wieder am geometrischen Anfangspunkt angekommen. Aber das ist kein Rückfall!
(31) cedet et ipse mari vector (V.38): Die Natur erreicht eine bemerkenswerte Verbes­serung dadurch, daß jeder Fleck Erde die gleichen Vorzüge hat wie alle anderen Flecken Erde. Dann wird nämlich der Seefahrer (vector 38) keine übermütige Erwerbs- und Erbeu­tungssucht mehr brauchen, er kann vom Meer sicheren Abstand nehmen, nec nautica pi­nus mutabit merces: Die Fichte wird nicht als Schiffsmast dienen und die Erzeugnisse ver­schiedener Erdteile als Waren gegeneinander austauschen müssen, was früher immer auch in neues Unglück geführt hat (Hesiod op.618-694, Arat 282-299, Hor.c.1,3).
(32) omnis feret omnia tellus (V.39): Das ist das Erfolgsgeheimnis der neuen Golde­nen Zeit, jede Erde wird allen alles bringen, so daß Warentransport über Meer und Märkte nicht mehr nötig sind.
(33) non rastros patietur humus (V.40): Die Erde der Baumpflanzung wird nicht mehr gehackt, non vinea falcem: Das Laub der Reben muß nicht mehr geschnitten werden. Weil jeder Erdklumpen die gleichen Fähigkeiten hat wie alle anderen Erdklumpen, braucht man keinen zu bearbeiten, um ihn zu verbessern.
(34) iuga solvet arator (V.41): Auch der Pflugstier wird das Joch nicht mehr tragen müssen. Die ungepflügte Erde ist so fruchtbar wie die gepflügte. Hacken und Schneiden wird nicht mehr nötig sein.
(35) ipse sed aries (V.43): Der Widder wird sein Vlies von sich aus in Purpur und Sa­fran ver­färben. (Vgl. Ovid 1,111) Rubenti murice (Purpurmuschel), croceo luto (safranfar­bener Wau), sandyx (Scharlach) sind wieder Farben der bukolischen Heraldik, die den Tie­ren dieser zukünftigen Goldenen Zeit natürlich mit dem Fell aus der Haut wachsen. Also wird die Natur an Qualität sich selbst übertreffen, dank einer nicht weiter zu begründenden gött­lichen Willkür der Zukunft.
(36) cedet et ipse mari vector (V.44): Die Natur erreicht eine bemerkenswerte Verbes­serung dadurch, daß jeder Fleck Erde die gleichen Vorzüge hat wie alle anderen Flecken Erde. Dann wird nämlich der Seefahrer (vector 38) keine übermütige Erwerbs- und Erbeu­tungssucht mehr brauchen, er kann vom Meer sicheren Abstand nehmen, nec nautica pinus mutabit merces: Die Fichte wird nicht als Schiffsmast dienen und die Erzeugnisse verschiedener Erdteile als Waren gegeneinander austauschen müssen, was früher immer auch in neues Unglück geführt hat (Hesiod op.618-694, Arat 282-299, Hor.c.1,3).
(37) sponte sua = ipse iam. sandyx (V.45): Scharlachfarbe.
(38) talia saecla (V38): Eine solche Goldene Luxuszeit werden die Parzen mit ihren Spindeln spinnen, suis dixerunt fusis Parcae. Vergil wechselt an diesem recht willkürlich erzeugten Punkt seines kosmischen Zukunftsentwurfs wieder die Autorität, von einer vom Senat befragten Sibylle und einer archaisch-epischen Lehrdichtung und einer hellenis­tisch-philosophischen Mythendeutung zu dem kreativen Hochzeitssegen der Parzen, den uns Catull 64,303-383 aus der eleganten Hofdichtung des Kanopus überliefert. Die neuen Vorhersagen der neuen Goldenen Zeit ab V.37 bis hier und die folgenden geben also nicht mehr wie die Sibylle von Cumae Antwort auf politische Fragen, sondern erzeugen die kon­krete Zukunft der ganzen lebenden Natur selbst durch Spinnen und kündigen sie dabei an.
(39) Aderit iam tempus (V.39): Die Hochzeitsnacht? Dann müßte doch die Braut er­wähnt werden. Also eher die Ämter eins nach dem andern; Es kann ja, nach V.37 ubi vi­rum te fecerit aetas nur der allegorische Knabe gemeint sein. Cara sc. genitoribus, den Göttern, s.V.7.
(40) adgredere magnos honores (V.48): Die endgültige Reife zu Staatsämtern ab dem 31. Lebensjahr schließt den Reigen der Lebensalter, die im neuen Saeculorum Ordo an­stelle der Metalle Hesiods die Zeiträume gliedern. Gehen wir davon aus, daß in der klassi­schen Heroenzeit des alten Saeculorum Ordo Götter regiert haben und in der Eisernen Zeit Jupiter allein (mit Göttern als Ministern), dann wird der zu deren Ende neu geborene Ordo Saeculorum (ille V.15) auf dem ruhmreichen Gipfel seines Lebenslaufs (Epoche 2E) ein Magnum Jovis Incre­mentum, ein Superjupiter sein, und diese Jupiter-Zeit keine ehr- und rechtlose, wie im ers­ten Kreislauf die eiserne Menschengeneration Hesiods, denn im neuen Ordo ist die Jung­frau wiedergekommen (s.V.6), und dank der neuen Heroen (die die Tugenden der römi­schen maiores gelernt haben, s.V.26f.), eine ruhmreiche; und da Meer und Erde und Far­ben die Unvollkommenheiten, die sie in der ersten Goldenen Zeit noch hatten, reformiert und ausgeglichen haben (V.38-47), auch eine bessere als die ursprüngliche goldene.
(41) magnum Jovis incrementum (V.49): "Großer Zuwachs Jupiters!" Dieser, Jupiter auf den zweiten Platz verweisende, Lobpreis des allegorischen Jahrhundertknaben ist mit dem Parzenlied ("Talia Saecla"), das mit der latinisch-saturnischen Blüteperiode (Epoche 1A V.26-30) eine durchgreifende Verbesserung und Vollendung bringen will (Epoche 2E, V.37-47), zwingend gefordert. Das genauso zwingende Motiv der Versuche, das Wort in­crementum als Ansage einer Apotheose oder der Geburt des Missias in Bethlehem zu deuten, war aber nur das Palmströmsche Prinzip "daß nicht sein kann was nicht sein darf": "Ein Sterblicher darf doch kein Iovis incrementum sein! Vergil meint natürlich etwas Göttli­ches!" Meint er aber nicht. Vergil hat Humor! Servius versucht vergeblich, incrementum als nutrimentum, "Zögling" zu verstehen.
(42) convexo nutantem pondere mundum (V.50):"Das unter dem gewölbten Gewicht einknickende All" (die nördliche Halbkugel des Sternhimmels über dem schräg auf und ab schwingenden Tierkreis).
(43) terras (V.51): Die Erdfläche in der Himmelskugel. Tractus maris: Der Horizont und die Ozean-Oberfläche, die die in der Mitte des Globus schwebende Erscheibe umgibt. Cae­lum profundum: Die südliche Halbkugel des Sternhimmels, die für nördliche Beob­achter immer unter dem Horizont bleibt.
(44) aspice ut laetentur omnia (V.44): Schau, wie das ganze Weltall sich über das be­vorstehende Zeitalter freut! Tum: Beim Ämterantritt des allegorischen Weltalterknaben.
(45) o mihi ... maneat longae pars ultima vitae et spiritus quantum sat erit (V.52): Bezie­hungstausch von vita longa, et partis ultimae spiritus quantum sat erit.
(46) tum (V.52): "Dann", wenn am Zielpunkt der langen Zeitenreihe die V.8 geborene Alle­gorie ihre ohne Kürschnerkosten gelieferten prächtigen Gewänder anlegt, weil sie die vor­schriftsmäßig erreichten Amtsjahre antritt und der neugeborene Knabe sich anschickt, die Goldzeitprodukte zu ernten und dann in Ewigkeit zu besingen sein wird. Also in 40 bis 60 Jahren nach Vortrag des Gedichts, zwischen 1 vor und 20 nach Christi Geburt. Dann wird die momentan 41 v.Chr. feiernde Gesellschaft zum großen Teil ausgestorben sein und, da die neuheroische Generation wohl noch nicht ganz endgültig gesiegt haben und die wun­derbare Entwicklung der superjovialen Epoche 2E noch nicht ganz vollständig eingetreten sein wird, die Überlebenden die Sache längst vergessen haben. Ein Mann wie Scipio Africanus hat, Ciceros Somnium Scipionis zufolge, den letzten kosmischen Gipfel erreichbarer Menschenwürde erst nach seinem Tod erreichen dürfen. Man kommt, glaube ich, beim Beifallspenden, das dem Gedichtvortrag unmittelbar folgen muß, um ein ernüchterndes Lachen nicht herum! Der Neu-geboren-zu-werdende wird auf ein ernstzunehmendes Epinikion schlieißlich doch verzich­ten müssen, denn die fünf Kulturperioden fallen gerade wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Ausdrücke Magnus Saeclorum Ordo V.5 und Saturnia Regna V.6 sind angemaßte heraldi­sche Titel, auf die ein Nachkomme des Konsuls Asinius Pollio, sollte er wirklich geboren werden, nicht den Traum eines An­spruchs haben wird, und die Beschreibungen der Jahres- und Vegetations- und Kleider­stoff-Entstehungsphasen und Kulturstufen- und Nationalgeschichtszeiten sind auch nichts Realeres, das Ganze also kein ernst zu nehmendes Responsum zu einem persönlichen Anlaß und keine praechristliche universale Prophetie, sondern scherzhafte Usurpation einer im Senat aktuellen solchen in einem bukolischen Unter­haltungsgedicht für die fröhliche private Feier eines vielleicht nur unsicher erwarteten und trotzdem (fair?) errungenen Wahlsiegs. Eine Jocatio quasi fescennina.
   Wirklich? Nicht doch ein seriöses Hochzeitsgedicht mit eingelegtem Orakel als bukolischer "Silva"?
   Nein. Die Berufung auf Catull c. 64 spräche klar, ja ausschlaggebend für diese arkadien-ro­mantische Deutung, müßte sich nur die Person der Kindsmutter, der erst im drittletzten Vers eine gewisse Existenzberechtigung zugestanden wird – falls der Knabe auch ihr ein Lächeln gönnen sollte, weil sonst später auch er bei Göttinnen keine Chancen hätte - also, müßte sich die Mutter (um von Pollios Schwiegervater zu schweigen) von dem Gedicht schwerstens verhöhnt und beleidigt fühlen. Da ist doch, wenn schon das Palmströmsche Prinzip gilt, eher anzunehmen, daß Asinius Pollio im Jahr 41 Junggeselle war, beim Militär für eheliche Kinder schon etwas alt geworden, und die Verdächtigung, daß er sich als der alimentierpflichtige Vater des neuen Weltalters, das die Sibylle von Cumae verkündet hatte, herausstellen wird, ein ziemlich frecher Scherz Vergils.
(47) carminibus (V.55): Rückkehr zur Ankündigung canamus V.1. Die Vorschußlorbeeren für endlose, aber einstweilen ungetane Taten eines noch nicht von Licinia gesegneten Kindes sind so maßlos, daß das paulo maiora V.1 wirklich nur als Ironie verstanden werden kann. Alle irgendwie verfügbare Inspiration von Apoll, Orpheus, Linus, Calliope und Pan mit ganz Arkadien, indirekt auch von Venus und den Parzen, wird mit all ihrer He­raldik beschworen, um dem allegorischen Vaterschaftsglückwunsch Kraft zu verleihen.
(48) Pan etiam (V.58): Vergil will für Pollio nicht nur orphisch, sondern eben auch bukolisch dichten. Was er damit genau meint, weiß nur das panische Arkadien.
(49) risu cognoscere (V.63): Beziehungsumkehr von ride cognoscens; incipe co­gnoscere geduldiger als iam cognosce. Dea dignata cubili est = dignari solet, Gnomisches Perfekt. Es soll damit nicht gesagt sein, daß wohl Aeneas als Neugeborener seiner Mutter offenbar zugelacht hat, Paris und Hektor aber offenbar nicht, und darüber nachgedacht werden muß, warum, und woran man das gemerkt hat. Vielmehr spielt Vergil mit den heraldischen Schlußversen den freundlichen Onkel, der die stolze Mutter, die ihm das Kind zeigt, lobt und den Säugling mit einem zärtlichen Kitzeln begrüßt und zum Lachen bringt, um die immer noch bloß leblose Allegorie endlich zu realem phantastischem Leben zu erwecken.


Betreffs der Urheberschaft erkläre ich, daß die grundsätzliche Deutung des Knaben als Allegorie schon vertreten wird von meinem verehrten Lehrer K. Büchner in "Vergil, der Dichter der Römer", RE 1955, 1021ff. bzw. Sonderdruck S.175ff. Für die übrigen Auffälligkeiten des Kommentars, soweit sie in der Spezialliteratur nicht schon vorge­kommen sind, übernehme ich allein die Verantwortung. Müllheim (Baden), den 23. Mai 2013.
Manfred Erren