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Müllheim (Baden), Baden-Württemberg, Germany
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Donnerstag, 23. Juli 2009

Das vollkommene Lehrgedicht

("Festakademie Abi 48", bearbeitet für "Errens Blog" 2009)

Liebe Klassenkameraden, Schicksalsgenossen vom Abi 48!
In meinem heutigen Vortrag erstatte ich Euch Bericht, was ich mit meinen gymnasialen Latein- und Griechisch-Kenntnissen nach dem Abi angefangen habe. Natürlich betraf das nicht nur Vergil. Aber ich muß mich aufs Wichtigste beschränken. Meine wichtigste Publikation ist mein Kommentar zu Vergils Georgica. Der ist eines der dicksten Bücher im Regal der Seminarbibliothek, und fügt zum bisherigen Kenntnisbestand unserer Wissenschaft, wenn man sie denn rezipiert, von allem was ich geschrieben habe, die meisten wirklich eigenen Beiträge hinzu. Weil es aber ein Kommentar ist, verteilen sich die neuen Erklärungen auf tausend verschiedene Textstellen, und deswegen haben die Rezensenten bemängelt, daß ich keine zusammenfassende Darstellung meiner neuen Gesamtauffassung geschrieben hätte. Das habe ich aber mit vollem Bewußtsein unterlassen, damit die Kollegen nicht vom ganzen nur diese Gesamtauffassung lesen, dieselbe auf Grund mangelnder Übereinstimmung mit ihrem schon vorhandenen Wissen ablehnen und den ganzen Kommentar gelangweilt im Regal stehen lassen. Sie sollten lieber dann, wenn sie einmal mit einer Stelle in Vergils Georgica ein Problem haben, meine Lösung dazu nachsehen, sich damit helfen lassen oder sich mit ihr auseinandersetzen. Aber von Euch, liebe Klassenkameraden, kann ich das nicht erwarten. Darum trage ich Euch jetzt in dieser Festakademie die im dicken Buch unterschlagene Gesamterklärung des Lehrgedichts als solchen vor.

Was soll das, ein Agronomie-Lehrbuch in Gedichtform?

In meiner Antwort lernt Ihr dann Vergils zweites und mittleres Hauptwerk Georgica gleich richtig und in seinem Gesamtsinn kennen. Ihr habt ja auch ein Recht darauf, von mir mitgeteilt zu bekommen, was ich denn nun als preisgekrönter Lateinschüler von meiner beruflichen Lebensreise als klassischer Philologe schlußendlich mitbringe.

Die Vollendung der Gattung "Lehrgedicht"

Vor ca. 50 Jahren bat ich unsern Freiburger Professor Karl Büchner um ein Doktorthema. Er wünschte, daß ich die Geschichte der Gattung "Lehrgedicht" schreibe, die in Vergils Georgica ihre Vollendung gefunden habe. Ich fragte ihn: "Welche Lehrgedichte soll ich untersuchen?" worauf er antwortete "Alle." Also begann ich bei Hesiod, analysierte die Gattungsmerkmale, ging dann mit vergleichenden Analysen die Reihe durch bis Empedokles und mußte dann, weil zwei Jahre um waren, aufhören. Die Philosophische Fakultät in Freiburg war damit für den Doktortitel zufrieden. Seit damals habe ich aber 40 Jahre an den übrigen Lehrgedichten herumstudiert und über 30 Jahre an einem Kommentar speziell zu Vergils Georgica gearbeitet und kann Euch jetzt sagen, warum Vergils Lehrgedicht über alle andern hervorragt: Weil Maecenas, der es veranlaßt hat, der bekannte C. Cilnius Maecenas, nicht nur Mäzen, spendenfreudiger Kunstkenner, sondern als Stellvertreter des Triumvirn C. Iulius Caesar Divi Filius Octavianus, des mächtigsten Mannes seiner Zeit, ein ebenso genialer wie mächtiger Kulturpolitiker war und für die römische Dichtung Ähnliches geleistet hat wie der athenische Tyrann Peisistratos im 6.Jh.v.Chr. für die Homerische Dichtung und für die athenische Tragödie. Maecenas hat der Veröffentlichung der Georgica den institutionellen Rahmen vorgegeben, um sie zum Programm-Manifest der augusteischen Sozial- und Wirtschaftspolitik zu machen. Die Trägerschaft für dieses Manifest ist es, und die strukturelle Einrichtung dazu, was die Georgica zum vollendetsten antiken Lehrgedicht macht - falls man es, mit Karl Büchner, so einschätzen will.

Die politische Begrüßungsrede

Und zwar geschieht diese literaturgeschichtlich so auffällige Strukturierung des Lehrgedichts Georgica eben dadurch, daß Maecenas es dem Caesar Octavianus, als er nach der Entscheidungsschlacht bei Actium mit seinem Heer vom Hafen Neapel nach Rom, um zu triumphieren, heimmarschierte, auf einer Rast von Vergil selbst vortragen läßt. Diese Dichterlesung hält man in der Latinistik, soviel ich weiß, für eine Art Probelesung zwischen Octavian, Maecenas und Vergil, oder für eine exklusive Kabinettsdarbietung. Ich glaube aber, daß sie das nicht war. Sie war vielmehr eine Proklamation, bei dem durch den Mund Vergils das Landvolk Italiens, vereint mit dem römischen Senat, erklärte, daß es den Sieger von Actium, Sohn des göttlichen Caesar, als zukünftigen Staatsgott betrachte, seine Kultrestaurationen als neue Volksreligion kultivieren werde und aus seinem, des neuen Caesars Mund herrschaftliche Weisung erbitte.

Der Sprecher des Maecenas

Diese kultur-, wirtschafts- und staatspolitische Proklamation war natürlich nicht Vergils Phantasie entsprungen und ganz gewiß nicht erst unter dem Eindruck der siegreichen Schlacht von Actium ersonnen. Sie war vielmehr von langer Hand vorbereitet, und Vergil als der Verfasser des Wortlauts sorgfältig ausgewählt.
P. Vergilius Maro aus Mantua war dafür der einzig richtige Mann. Er war durch seine Hirtengedichte, die "Eklogen", als virtuoser Nachahmer der eleganten alexandrinischen Dichtung berühmt geworden. Wie diese für die Ptolemäische Regierung propagandistische Aktivität entfaltet hatte, hatte auch Vergil seinen römischen Gönnern Huldigungsverse gewidmet, die sie in der tonangebenden Senatorengesellschaft als Kenner und Förderer moderner Dichtung bekannt machten. Als nach dem Krieg gegen die Caesarmörder und den demographischen Aufräumarbeiten bei Mutina und Perusia, in denen der damals zweiundzwanzigjährige Triumvir - das heißt sinngemäß ins Neudeutsche übersetzt so viel wie "einer der drei Warlords" - C. Octavius seinen massenmörderischen Aufstieg zur Macht begann, wurden große Ländereien unbürokratisch enteignet und an Veteranen der Sieger verteilt, darunter auch ein Gut des Vergilius Maro. Aber das wurde schnell als Panne erkannt. Vergilius war nicht nur als Neubürger der vorher gallischen Poebene treuer Klient Caesars gewesen, auch seine bedichteten Senatoren gehörten zu dieser Partei. Also beeilten sich diese, die requirierten Güter für ihren Dichter zurückzurequirieren, und Vergil bedankte sich dafür bei C. Iulius Caesars Ziehsohn und Adoptivsohn C. Iulius Caesar Octavianus mit den Eklogen 1 und 9.
Da wir im BG die Eclogen nicht kennengelernt haben, muß ich hier einen kleinen literaturgeschichtlichen Exkurs einflechten. Ich hole also ein wenig aus und greife zurück auf Theokrit, den alexandrinischen Dichter, dessen "Eidyllia" = Bildchen, "Idylle", das sind "Schäferszenen", kasperltheater-ähnliche, gutmütig karikierende kurze Unterhaltungen sizilianischer Hirtenjungen auf der Weide bei ihren Ziegen oder Schafen, die sich über ihre Kollegen vom Nachbargut oder über wiederentdeckte alte Mythen oder neue Fresken in Wandelhallen oder modische Vasenbildmotive unterhalten, so gut sie diese eben verstehen. Theokrit schafft sich in dieser Gedichtsammlung Gelegenheit, den jungen Burschen mancherlei freche Anspielungen in den Mund zu legen, manchmal auch politisch-propagandistische Meinungsäußerungen, nicht zuletzt, versteht sich, zum Lob des Königs Ptolemaios. Diese Gedichte nun ahmt Vergil so nach, daß er die sizilischen Hirten mitsamt ihren griechischen Namen in die Poebene versetzt, dort auftreten läßt und sich über italische Verhältnisse, eben mächtige römische Senatoren und neue Gedichte unterhalten und Schnaderhüpferln improvisieren läßt. In der 1. und der 9. von den 10 Eklogen wird der junge Mann in Rom erwähnt, der wahrhaftig ein Gott sein muß, so stark hilft er armen Hirten, die ihn um Hilfe bitten. Damit meint Vergils Hirte unverkennbar C. Octavius, den einen der drei Warlords, der für Vergil intervenierte, als andere ihn bedrängten. Der Hirte Tityrus, hinter dem verbirgt sich Vergil, muß sein heimatliches Gut eben nicht, wie man ihm erst befohlen hat, verlassen, wie sein Freund Menalcas und viele andere in der Nachbarschaft.
Diese idyllischen Danksagungen Vergils gefielen auch an allerhöchster Stelle, und Maecenas merkte sich den Mann. Als der Krieg gegen die Caesarmörder zum Krieg der beiden Sieger gegeneinander überging, gab Maecenas Vergil die Chance, seine Dienstleistung für den neuen Caesar vollständig zu machen, falls er seine Kunst, wie nach dem kleinen Krieg für Aufnahme Caesars in den Himmel, so nach dem großen Krieg auch für die Regierung Caesars vom Himmel herunter, einsetzen wollte. Wäre er dazu bereit, so würde man schon dafür sorgen, ihn rechtzeitig in die einschlägigen Vorstellungen des neuen Caesar einzuweihen.
Vergil war dazu bereit, und er erfüllte seinen Auftrag mit dem Lehrgedicht Georgica.

Die Proklamation in Atella.

Vergil brauchte für seine Arbeit konkrete Informationen, und er bekam sie auch. Die Zeit der Bürgerkriege von Caesars Überschreitung des Rubico bis zur Heirat von Antonius und Kleopatra in Alexandria war in Rom eine Zeit gewaltigen kulturellen Umbruchs. Die ganze römische Geisteswelt hat sich hellenisiert, der Einfluß griechischer Gelehrter und Literaten in Rom, schon zu Catulls Zeit stark, wurde durch die Regierung des Liebespaares Kleopatra und Caesar in Rom einfach unwiderstehlich, und war nicht schlecht, man denke allein an den Julianischen Kalender, der von ägyptischen Astronomen erarbeitet und von Caesar zum Gesetz erhoben wurde. Die Mythenforscher aus Alexandria in Rom suchten aus ihren Truhen den Aeneasmythos und andere Kleinodien hervor, die später römische Prunkstücke werden sollten, und als Vergil im Jahr 36 den Auftrag für die Georgica erhielt, waren in Rom religionsgeschichtliche Forschungen und Sammlungen römischer Ursprungsmythen im Stil alexandrinischer Dichtung schon weit gediehen. Sieben Jahre später, im Jahr 29 v. Chr., als der Adoptivsohn und Universalerbe Caesars von der gewonnenen Schlacht bei Aktion und der Arbeit an den Friedensverträgen in Kleinasien das Heer nach Italien heimführte und seine Flotte in Neapel einlief, war zwar Kleopatra besiegt und tot, aber die Astrologen, Aitiologen, Ethnographen und Mythographen, man darf vielleicht auch noch Historiographen und Rhetoriklehrer und Technologen wie etwa Agronomen hinzufügen, die sich unter ihrem Einfluß auf Palatin und Esquilin eingenistet hatten, hatten fleißig gearbeitet und in der römischen Gesellschaft Nacheiferer gefunden. Vergil hatte genaueste Anweisungen, an welche Programme er sich zu halten hatte und an welche nicht. So konnte Vergil seinem Auftraggeber das bestellte Kunstwerk im gewünschten Stil vorlegen. Es verstand sich von selbst, daß der Dichter bei denen war, die dem Imperator zur Begrüßung entgegenreisten, denn Maecenas, der generalbevollmächtigte Beauftragte für stadtrömische und italische Angelegenheiten, wollte dem neuen Caesar Vergils Manifest noch vor dem großen Einzug in Rom darbieten.

Die Salutatio

Die passende Gelegenheit dazu war die rituelle Salutatio bei der Begegnung der beiden Konvois im kampanischen Atella. Dort machte Octavian auf seinem Marsch nach Rom ein paar Tage Pause, so daß das Städtchen sich mit Quartieren und Saalschmuck für die Begrüßungszeremonien einrichten konnte. Wir wissen das von der Vita Vergilii des Grammatikers Donatus vom 4.chr.Jh., die sich aus vielen gesammelten Bruchstückchen verstreuter Berichte zusammensetzt, und darüber nur berichtet, daß der Imperator bei dem Aufenthalt seine abgeschriene Kehle auf zivilen Gebrauch umtrainieren wollte, Vergil ihm an vier Abenden seine vier Bücher selbst vorgetragen habe, und Maecenas Vergil, sooft seine Stimme ermüdete, im Vorlesen abgelöst habe. Diese Traditionsspur, die von allem nur die sorgfältig gepflegten Stimmen wahrgenommen hatte, führt wohl von dem späten Grammatiker auf einen frühen Grammatiker zurück. Aber man darf wohl annehmen, daß die drei berühmten Männer sich nicht ihrer Stimmen wegen in Atella getroffen und dort Vergils neues Gedicht als Übungsstoff mißbraucht haben. Der wirkliche Anlaß der gemeinsamen Lesung war sicher die Salutatio des Senatskomitees für den ankommenden Imperator, ein ritueller Staatsakt mit eigenem Protokoll und feierlichen Reden, und man muß davon ausgehen, daß auch zu der vierteiligen Dichterlesung ein repräsentativer Personenkreis eingeladen war.

Die beiden Exordien

Ins Proömium des ersten Buchs ist eine Passage eingebettet, die man als Teil des eigentlichen Salutatio-Textes ansprechen kann, und zwar so, daß vom begrüßenden Volk als erster und dringendster Wunsch an die neue Regierung eine Sanierung der heruntergekommenen Landwirtschaft erwartet wird. Es ist nur die erste einer ganzen Reihe von Stellen in den vier Büchern, die auf die Salutatio gemünzt sind; aber ich muß mich hier auf die Betrachtung dieser ersten Stelle im Proömium beschränken.
Wir können uns von da aus den Beginn des Gedichtsvortrags ganz konkret vorstellen:
Die ersten vier Verse reagieren auf die einführenden Worte des Versammlungsleiters. Maecenas hat auf die Freuden des Sieges und der beginnenden Friedenszeit, aber auch auf die neuen Sorgen hingewiesen, die die heimkehrenden Söhne, zumal die Veteranen, in der Heimat antreffen. Jetzt stellt er dem Publikum den berühmten Dichter vor, der sein neues Werk vortragen und darin darstellen wird, wie die schweren, aber schönen Aufgaben des Friedens zu bewältigen sein werden.
Vergil tritt hervor, wendet sich aber zuerst noch besonders an Maecenas, und sagt:
Was Saaten üppig macht, Maecenas, bei welchem Stern man die Erde wenden und die Reben an Ulmen binden sollte, was Sorge für Rinder ist, was Pflege, wenn man Kleinvieh hält, und wie groß die Weltkenntnis der sparsamen Bienen, das will ich jetzt anfangen zu singen.
Quid faciat laetas segetes, quo sidere terram 1
vertere, Maecenas, ulmisque adiungere vites
conveniat, quae cura boum, qui cultus habendo
sit pecori, apibus quanta experientia parcis,
hinc canere incipiam.
Diese meine lebendige Vorstellung vom Auftritt Vergils ist nicht pure Phantasie. Die klassische Rhetorik hat ein ganzes Kapitel von genauen Vorschriften, wie eine Rede anzufangen hat. Das Exordium umfaßt normalerweise drei Argumente: Das eine wirbt um Wohlwollen, benevolentia, das andere weckt Aufmerksamkeit, attentio, das dritte schafft "Gelehrsamkeit", docilitas, indem es das genaue Thema nennt. Die Reihenfolge ist nicht immer dieselbe, aber auch nicht gleichgültig; es gibt zwingende Regeln, mit welchem der drei Argumente jede Art von Rede beginnen muß, um Erfolg zu haben. Mit der Bekanntgabe des Themas darf eine Rede nur dann beginnen, wenn sie in derselben Versammlung auf die Rede eines andern folgt und kein komplettes Exordium braucht, weil der Vorredner Geneigtheit und Interesse beim Publikum für die obwaltenden Umstände schon ausreichend hergestellt hat. Der neue Redner fügt dann seine Rede nur zur andern hinzu und nennt nur sein Thema, wie hier Vergil, wie in einer Art Überschrift über ein neues Kapitel.
So läßt Vergil die Erwähnung des Anlasses und die Begrüßung der Gäste usw. weg und nennt gleich sechs Fragen, auf die er antworten wird - sie bilden die Themen der vier Bücher - und sagt im nachgestellten Hauptsatz:

hinc canere incipiam. 5
...das will ich jetzt anfangen zu singen.
D.h., sein Auftritt ergänzt die Einführungsworte des Maecenas mit genauen Angaben zu den Themen, zu denen er jetzt das Wort ergreift. Das ist der Dank für die freundliche Einführung, und noch nicht das angekündigte Gedicht. Erst im nächsten Halbvers fängt Vergil das Gedicht selbst an, mit erhobenem Blick und erhobener Stimme:
Vos, o clarissima mundi 5
sidera...
Ihr, die hellsten Gestirne des Alls...
Gemeint sind Sonne und Mond. Die feierliche Anrufung der zwölf Götter des Landbaus und die Bitte um ihren Beistand V.12-23 ist ein Gebetstext, der vermutlich einem offiziellen Opferritus wie etwa den Ambarvalien entnommen ist. Der zeitgenössische Gelehrte M. Terentius Varro, von dem wir drei Bücher De agricultura haben, die auch Vergil für die Georgica benützt hat, auch Varro fängt sein erstes Buch mit dieser Anrufung der zwölf Götter an. Allerdings wählt er nicht ganz dieselben, wie Vergil; z.B. fängt er mit Iuppiter an, den Vergil überspringt, dafür nennt Vergil Faune und Dryaden, die wiederum Varro übergeht. Die Abweichungen lassen sich natürlich im einzelnen interpretieren; was ich hier überspringen muß. Uns genügt hier die formal-liturgische Übereinstimmung der Zwölferreihe.
Wichtiger ist, daß vorher, noch vor den Göttern, vor dem illustren Zuhörer und den Gästen und auch vor den zukünftigen Lesern, Maecenas angeredet und das genaue Thema bekanntgegeben wird. Das kann nur daher rühren, daß der ganze Gedichtvortrag in einer von Maecenas geleiteten Veranstaltung stattfindet, in der feierlich und ausführlich zu landwirtschaftlichen Initiativen aufgefordert werden soll. Erst dadurch, daß Maecenas ihm das Wort erteilt, wird Vergil als anhörenswerter Begrüßungssprecher beglaubigt und ausgewiesen, und nur für die von ihm genannten Themen.
Daß er aber nichtsdestoweniger zu einer großen nationalen Anstrengung aufrufen soll, wird im Attentions-Argument deutlich:
Vergil überrascht sein Publikum damit, daß er an die Reihe der Götter den Triumphator, der in der Ehrenloge Platz genommen hat, den Caesar Octavianus Divi Filius, anreiht und wie einen Gott der Landleute anruft, weil er ja auch einmal wie sein Vater als Gott in den Himmel aufsteigen wird, - natürlich an oberste Stelle (so verlangt es von einem römischen Lobredner der Anstand). Man weiß nur noch nicht genau, in welchen Teil des Kosmos er seine Residenz verlegen wird:

tuque adeo, quem mox quae sint habitura deorum 24
concilia incertum est...

Und vor allem du, - in welcher Götterversammlung Du bald sitzen wirst, ist ungewiß, Caesar...

und dann richtet Vergil am Schluß der ganzen, jetzt auf dreizehn Götter verlängerten Reihe von Schutzgöttern des Landbaus, die Bitte um Beistand nur an ihn, den dreizehnten:
da facilem cursum atque audacibus adnue coeptis 40
ignarosque viae mecum miseratus agrestis
ingredere et votis iam nunc adsuesce vocari.
Gib gute Fahrt, und Deine Zustimmung zu meinem kühnen Unternehmen! Hab Erbarmen mit den Landleuten, die den Weg nicht kennen, schreite mit mir voran! Und gewöhne Dich schon jetzt daran, daß man Dich unter Gelübden anruft.
Dieses Gebet gilt dem Sinne nach auch für die zwölf alten Götter. Ausgesprochen wird es aber nur bei Caesar, der bis zur Stunde noch ein sterblicher Mensch ist, der Gedanken noch nicht von weitem hören kann und Gebete, die er nicht hört, auch nicht erhören wird. Vergil könnte also die Bitte um Beistand für sich und Erbarmen mit den Bauern nicht im Ernst an den Caesar richten, wenn der nicht im Saal anwesend wäre.
Indem er es aber tut und dazu ausdrücklich sagt, daß er ihn schon für den Augenblick als Gebete erhörenden Gott anspricht, als neuen höchsten, man weiß nur noch nicht genau von wo aus regierend, zelebriert Vergil einen Herrscherkult, der die römische Staatsreligion aufhebt und ablöst,- und sich auch ein ganz klein wenig launig über sie lustig macht. Das kann Vergil gegenüber dem Souverän und vor Augen der Hofgesellschaft nur auf Grund unbedingt bindender Absprachen und Genehmigungen machen. Es ist, da es unwidersprochen bleibt, bereits eine Proklamation, und durch sie wird - da der angerufene neue Gott die Bitte sicherlich erhören und dem Dichter bei der Anleitung der Landwirte beistehen wird – durch sie wird das ganze Agrikultur-Manifest der Georgica zur offiziellen Proklamation der neuen römischen Regierung, deren neue Form wenige Jahre später "das Prinzipat" und "augusteisch" heißen wird.
Offensichtlich hat also Vergil, als er das Gedicht verfaßte, die politisch relevanten Passagen mit den zuständigen Stellen - sagen wir kurz: mit Maecenas - eingehend besprochen, und hat sich ferner, was die Anrede-Orientierung betrifft, von vornherein auf die Situation des Vortrags vor dem Caesar und vor den Spitzen der Gesellschaft eingestellt, hat die ersten Einleitungsverse von vornherein so konzipiert und auch die weitere Anredestruktur des Gedichts so entworfen, daß er sie bei diesem ersten Vortrag unverändert und ohne Ergänzungen vortragen konnte. Daraufhin wurden sie so überliefert und stehen jetzt so in den Handschriften, wie er sie damals in Atella vorgelesen haben muß.
Die geschichtliche Authentizität der Georgica
Diese phantasieanregenden Feststellungen mögen zunächst als märchenhaft kühne Vermutung erscheinen. Das ganze Gedicht mit seinen vier Büchern soll ganz und gar für die eine Gelegenheit des ersten Vortrags in Atella, von dem die Vita berichtet, verfaßt und darauf bezogen sein? Daß genau dieser Termin mit allen seinen politischen Rücksichten Jahre vorher geplant und durchgestaltet worden sein soll, und daß sich alle Beteiligten, Vergil, Maecenas, Caesar Divi Filius und seine Cohors amicorum dann an diesen Plan auch tatsächlich gehalten haben - kann man das im Ernst behaupten wollen?
Ich bin sicher, daß dem so ist. Es handelt sich um das, was bei Gerichtsreden die Constitutio causae heißt, die bestimmenden Vorgaben, auf die der Redner sein Konzept abstellen muß. Natürlich, das Atrium im Städtchen Atella konnte erst ausgewählt werden, als feststand, in welchem Hafen das Heer in Italien an Land gehen würde. Aber eine festliche Salutatio für den Heimkehrer war schon bei Beginn des Feldzugs routinemäßig vorauszusehen, und was die offizielle Heimkehr des Siegers zum Triumph angeht - warum eigentlich nicht? Hat Caesar Octavianus anfangs, als er um das Erbe und die Politik seines vergöttlichten Vaters zum Kampf antrat und schließlich auch gegen Antonius und Kleopatra auszog, nicht auch schon Sieg und Triumph und Landanweisungen vorgesehen? Also auch eine neue Wirtschafts- und Landbau-Politik.
Der Text des Gedichts "Georgica" steht fest und ist schriftlich überliefert, und darin sind die Anreden und Apostrophen und die dazugehörigen Kontexte so gefügt, daß sie in ihrem Zusammenwirken für den beschriebenen Staatsakt, und nur für diesen, volle Geltung gehabt haben. Ähnlich einem Drama und wie jede echte Rede bestimmt sich auch ein Lehrgedicht nach Zeit, Ort und handelnden Personen; die Georgica bestimmen sich als der Gedichtvortrag Vergils, der auf Veranlassung des Maecenas mit diesem persönlich nach Atella gekommen ist, um sein Gedicht vorzutragen, vor C. Octavius, der als neuer C. Iulius Caesar Octavianus, kurz Caesar, mit seinem siegreichen Heer nach Rom zieht, um dort über Kleopatra und viele andere besiegte Feinde zu triumphieren. Vergil soll zur Begrüßung des Triumphators ein Gedicht darbieten, in dem sich ein agrarpolitisches Manifest für die Wiederaufbauzeit nach dem Krieg verbirgt. Alle diese nötigen historischen und persönlichen Daten des Ereignisses gibt Vergil, an verschiedenen Stellen des Gedichts eingeflochten, bekannt, nur den Ortsnamen Atella nicht. Den konnte er vorher beim Dichten noch nicht wissen. Aber nach Auskunft der Donat-Vita hat die Lesung der Georgica tatsächlich stattgefunden, und das I. Buch mit Vergils Proklamation somit auch; das Gedicht hat also damals die politische Aufgabe, der Proklamation eines agrarpolitischen Manifests, auf jeden Fall erfüllt, wie immer es als Lehre sonst gemeint war.
Das didaktische Epos
Was aber diese letztere angeht, so ist sie aus ihrem rhetorisch-dialektischen Anlaß nicht zu erklären, und muß, wie letztlich alle Lehre, aus ihrer eigenen Überlieferung, mystischer, mythischer, technischer oder wissenschaftlicher Überlieferung begründet werden.
Hesiods Vorbild
Das ist aber in diesem Fall sehr leicht, denn Hesiodos von Askra, der zweitälteste Dichter griechischer Literatur, liefert offenkundig nicht nur das technologisch-inhaltlich, sondern auch das poetologisch-formal unmittelbare Vorbild. Die welthistorische Begegnung, zu deren gemeinsamem Erlebnis sich Veteranen und Senatoren, Herrscher und Minister, der Dichter und sein Publikum in Atella trafen, war jener anderen, in der Hesiod seinem Bruder Perses und den Königen seine "Werke und Tage" vortrug, so analog, daß für die lateinische Öffentlichkeit zwischen Neapel und Rom eine Erinnerung an jene griechische Öffentlichkeilt Hesiods einfach unvermeidlich war. Auch Perses war als Krieger für seine Könige siegreich gewesen, auch Perses kehrte mit viel Beute heim und wollte ein bürgerliches Leben in Frieden zu führen lernen, und brauchte dazu auch wirtschaftliche Unterstützung. Hesiod aber, der Dichter, der sein Erbe schon vorher mit ihm geteilt und nichts Teilbares mehr besaß, gab ihm die Belehrung, die er brauchte, um das kleine Landgut, das er besaß, zu bewirtschaften und allmählich auch ausreichenden Gewinn daraus zu ziehen. Perses und Hesiod hatten wegen der Ausgangslage Streit, und Hesiod weist seinen Bruder deshalb zurecht. Das ist bei Vergil anders, weil die vom Krieg heimkehrenden Mitbürger Vergils nicht "geschenkefressende Könige", sondern einen gottähnlichen Imperator haben, der ihnen mit weiteren Unterstützungen helfen, schließlich auch als Princeps über genug reiche Mitbürger herrschen wird, die sehr wohl noch ein Stückchen Erbe mit den Veteranen werden teilen können. Auf wiederholte Erbteilung mit dem Dichter ist niemand mehr angewiesen. Die geistige Hilfe mit Belehrung können die neuen Landwirte aber trotzdem brauchen.
Also ist die Situation Vergils der Hesiods sehr ähnlich, es ist die Situation, in der in Europa Lehrdichtung erstmals aufgetreten ist. Und da sollte Vergil kein Lehrgedicht vortragen?
Aber auch in den anderen Lehrgedichten des klassischen Altertums, die wegen ganz anderer Anliegen entstehen, zeichnet jeder Dichter die Stunde seines Vortrags in seiner dramatischen Anrede-Orientierung, die den dinglichen Umständen seiner Veröffentlichung entspricht; ganz wie Vergil. Solon redet auf Flugblättern oder Symposien, man kann das nicht unterscheiden, seine Mitbürger an, Parmenides erzählt, wie ihn an der Himmelspforte Dike, die Gerechtigkeit persönlich, die fundamentalen Erkenntnisse von Logik und Physik offenbart hat, Empedokles spricht zu einem Schüler, der in seine Schule eingetreten ist, Arat spricht bei einem Symposion das dreifache Trankopfer an Zeus und beschreibt danach seinen Himmelsglobus, das Abbild des göttlichen Himmels, Lukrez hält Lehrvorträge an den halbwüchsigen Jungen, den ihm der Vater zur philosophischen Unterweisung anvertraut hat, Horaz schreibt einen Brief an junge Männer, die Dichter werden wollen, Ovid hält Vorträge an übermütige Convivalen. Die protokollarische Authentizität der Dichterlesung von Atella ist also in der Lehrdichtung gar nicht ungewöhnlich. Sie blieb lediglich bis jetzt von den neuzeitlichen Interpreten unbemerkt, denn der eigentliche Ausweis ihrer Authentizität ist in den meisten Fällen eben ihre alltägliche Belanglosigkeit: Man hält halt gut vorbereitete Unterrichtsstunden, oder schreibt halt einen Brief, ein Buch, trägt Gedichte vor. Nur manchmal, wie bei Hesiod, Arat und Vergil, hat man für seinen Auftritt einen durch äußere Fakten datierten Rahmen, und nur zweimal, in Hesiods Theogonie und bei Parmenides, ist derselbe mystisch datiert, also nicht historisch. Diese zwei Fälle könnten gattungsgeschichtlich von orientalischen Quellen vorgegeben sein. Die anderen Beispiele beweisen aber, daß die mystische Datierungsform in Europa nicht als anderen, historischen Veranlassungen überlegen und nachahmenswert empfunden worden ist, sich darum auch nicht als gewohnheitsmäßige Lehrgedicht-Einleitung durchgesetzt hat.
Das vollkommene Lehrgedicht
Und so gebe ich denn hier die einst Karl Büchner versprochene Antwort auf seine Frage, wie es kommt, daß Vergils Lehrgedicht die Vollendung seiner Gattung darstellt.
Es liegt nicht an dem Umstand, daß die Anredestruktur den historischen Augenblick der Proklamation authentisch festhält. Das ist ja gar nicht das Werk der Dichtkunst Vergils, der doch mit seinen Anreden nur mit naiver Selbstverständlichkeit die reale Situation spiegelt, für die er zusammen mit Maecenas das Lehrgedicht konzipiert und dann planmäßig verfaßt hat und vorträgt! Das war schon im ersten Lehrgedicht unseres europäischen Kulturkreises, in Hesiods "Werken und Tagen" so, und auch in Arats Phänomenen, ja überhaupt in allen antiken Lehrgedichten. Das Vollendete an Vergils Lehrdichtung ist die große Aufgabe, eine siegreiche Nation zu neuer Bebauung ihres Landes, des schönsten Landes der Welt aufzurufen.
Das wiederum scheint jedoch gerade für uns Alte Humanisten einen tiefen Sinn zu vollenden, weil Vergil in Erfüllung seiner Aufgabe eine Kultur proklamiert hat, die von da an Jahrhunderte lang über den ganzen Mittelmeerraum und darüber hinaus herrschen, im Zuge dieser Herrschaft uns die klassische lateinische Literatur hinterlassen und den Lateinunterricht begründen und schließlich Abituraufgaben aufgeben sollte, deretwegen auch wir schließlich was Rechts gelernt haben. Haben wir doch! Oder?